Der UK-Beratungskoffer

In meiner Beratungstätigkeit stehe ich fast immer vor der Situation, völlig fremde Personen begutachten zu müssen. Dies soll innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraums und unter dem manchmal sehr hohem Erwartungsdruck der Anwesenden geschehen. Schließlich sind die Ratsuchenden quer durch Schleswig-Holstein gefahren, jetzt soll verständlicherweise auch etwas dabei herauskommen.

Um die Situation zu entspannen und eine Basis für meine Beobachtungen zu legen, habe ich mir einen Beratungskoffer zusammengestellt. Wenn es um nichtsprechende Kinder mit verschiedenartigen Behinderungsbildern geht, ist es sehr riskant, sich auf die Aussagen der Eltern oder Betreuer alleine zu verlassen. Ich brauche eine eindeutige, personenunabhängige Kommunikationsmöglichkeit, um darauf meine Vorschläge aufbauen zu können. Deshalb habe ich in dem Koffer lauter Spielzeug, verschiedene Materialien und Oberflächen und lauter Dinge, die sich aufziehen lassen und sich bewegen oder batteriebetrieben sind. Ich kann nun einzelne Gegenstände herausnehmen und dem Kind vorführen oder es selber spielen lassen und mache dabei die Beobachtungen, die für eine Kommunikationsberatung notwendig sind. Also: Welche Körperteile werden eingesetzt? Wohin schaut das Kind? Versteht es Aufforderungen? Wird es selber aktiv? usw.

Der Koffer ist undurchsichtig, damit man nicht erkennen kann, ob noch etwas Anderes drin ist. Das Verhalten des Kindes läßt Rückschlüsse auf Antizipationsfähigkeit und räumliche Vorstellung zu, wenn es z.B. auf den Koffer deutet und etwas neues haben möchte. Um Kinder aus stereotypen Handlungsmustern herauszuholen, ohne ihnen die Muster gewaltsam zu verbieten, müssen wir ihnen schon etwas mindestens genau so interessantes wie etwa Zähneknirschen anbieten. Kartoffelmehl ist das einzige Material, was, in Stoffsäckchen abgefüllt, eine ähnliche sensorische Qualität hat und genauso knirscht. Das Mehl ist ungiftig und außerdem sehr preiswert. Die Kinder sind sehr erstaunt, daß sie einen neuen Reiz wahrnehmen und den gleichen Effekt z.B. am Kopf oder am Rücken erleben. Erst dadurch werden sie offen für Angebote von außen, die sie während des Knirschens überhaupt nicht wahrnehmen würden.

In der spielerischen Umgebung können die Beobachtungen ausgewertet werden, die man einem nichtsprechenden und körperbehinderten Kind natürlich nicht mit einem Testbogen vorlegen kann. Das spielerische Herangehen ist kindgerecht und entspricht dem gesunden Lernverhalten von Kindern. Langsam werden dabei sinnvolle Inhalte in die “Entdeckungsreise” eingefügt und wir landen bei einfachen Kommunikationshilfen und dem Netzschaltadapter. Hier ist die große Spielzeug-Eisenbahn ein Hit, da es dabei nicht bloß um das Fahren, sondern um wichtige Entscheidungsfunktionen geht: Signal, Schaffner, Lokführer, Weichen - alles Möglichkeiten der Auswahl, die nichtsprechende Kinder oft nicht haben und erst erlernen müssen. Darauf aufbauend können wir dann zum eigentlichen Ziel kommen und höherwertige Hilfsmittel ausprobieren, immer in dem Wissen um die sichere eindeutige und selbständige Bedienung durch das Kind.

Manche Eltern erwarten eher High-Tech-Computer und fragen: Warum dieser Spielkram in der UK-Förderung? UK kann aber nicht auf ein methodisches Verfahren oder einen Teststatus reduziert werden. Erfolgreiche UK muß beinhalten, eine innere Haltung mit emotionaler Wertschätzung dem Kind gegenüber zu entwickeln, die sich auf das Kind einläßt. Die Gestaltung dieser Beziehung gelingt am besten im Spiel. Für die ergotherapeutische Praxis in der Frühförderung / UK-Anbahnung bedeutet das, daß wir uns auf die vielfältigen Formen von Spielen einlassen müssen. Spielen ist der Motor der kindlichen Entwicklung bei Vorschulkindern, Spielen ist Ausdruck der Persönlichkeits- entwicklung. Im Spiel werden alle Sinne gebraucht, alle sensorischen Integrationsleistungen erbracht, ohne daß wir es steuern müssen. Spielen ist gleichzeitig Tätigkeitsform und Entwicklungsmittel, es verlangt Voraussetzungen und ist wiederum Voraussetzung. Spielen ermöglicht Kindern eine persönliche Sicht der Welt um sie herum und ist Übungsfeld für soziale Interaktion. Spielen ermöglicht reale, intuitive Erfahrungen, die wir im therapeutischen Setting nur mühsam künstlich gestalten können. Es braucht nur etwas Ruhe und Gelassenheit auf unserer Seite, damit wir das Kind uns zeigen lassen, was es kann. Und darum geht es doch bei der Beobachtung!

Autorenkontakt:
DRK Schul- und Therapiezentrum Raisdorf
Beratungsstelle für UK
Arvid R. Spiekermann
Henry-Dunant-Strasse
24223 Raisdorf

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