Leserbriefdiskussion aus Ergotherapie & Rehabilitation Ausgabe 9/2007

Betr.: Clinical Reasoning in der Pädiatrie, Ausgabe 6/2007

Befund korrekt?

Die Kollegin Birgit Putthoff schrieb einen sehr interessanten Artikel zur praktischen Umsetzung des Childrens Occupational Self Assessments (COSA) und setzte diesen in Bezug zur Denkweise des Clinical Reasoning. Ihre Beschreibung der Alltagsrelevanz und der Implementierung des COSA in die Therapiepraxis ist meines Erachtens sehr gut gelungen, solche Beiträge gibt es noch viel zu wenig! Bei dem anschließenden Fallbeispiel bekam ich jedoch Zweifel, ob die ergotherapeutische Befunderhebung richtig durchgeführt wurde. Alle beschriebenen Symptome und Auffälligkeiten des Jungen deuten darauf hin, dass es sich um einen Rechtshänder mit einer Hemiparese rechts handelt, was aber in der Beschreibung nicht erkannt wird. Natürlich kann man aus der Ferne und ohne weitere Kenntnisse des Einzelfalls keine präzisen Aussagen machen, aber wenn das zutreffen sollte, wird der Junge falsch behandelt, und dies sogar wissenschaftlich exzellent begründet. Eine Förderung der linken Hand wird diesem Kind in einem kosmetischen Trainingseffekt nur für kurze Zeit helfen; hier sind weitere Maßnahmen erforderlich, die sich an einer neuen Betrachtungsweise des Jungen orientieren und wirkliche Lösungen für die Probleme anbieten. Leider können Kinder, die bereits mit einer solchen Behinderung geboren werden, ihre Probleme nicht richtig einschätzen, da sie ja keine andere körperliche Situation kennen. Dieser Teil der Befunderhebung muss also von der behandelnden Ergotherapeutin oder dem Therapeuten selbstständig erforscht und in ein solches Self Assessment unbedingt mit eingebracht werden.

Arvid Spiekermann, Ergotherapeut (Raisdorf)

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Lieber Kollege,

danke für Ihr Interesse und Ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Mit Ihrer Vermutung liegen Sie richtig: In Zusammenarbeit mit einem sozial-pädiatrischen Zentrum wurde die These aufgestellt, dass Marcs Seitendominanz rechts ist. Die Fähigkeiten der rechten Extremität reichten jedoch zur Umsetzung vielfältiger Alltagsanforderungen nicht aus; die Greiffunktion sowie die Pround Supination des hypertonen Arms waren selbst nach langjähriger Physiotherapie deutlich eingeschränkt. Daher konnten weder grafomotorische Anforderungen noch das Taschepacken mit der rechten, wenngleich dominanten Hand ein realistisches ergotherapeutisches Ziel sein. Ziel war vielmehr, Marc zeitnah in seinen aktuellen Problemen zu unterstützen. Um diese ausfindig zu machen, halte ich das Assessment wie auch den therapeutischen Ansatz für angemessen. Ziel des COSA ist es, die Sichtweisen des Kindes und der Eltern in die Befunderhebung einzubeziehen und somit für sie bedeutungsvolle Ziele auf der Betätigungsebene zu finden. Im Artikel wird ein Auszug aus diesen Zielen dargestellt. Marc aufgrund seiner angeborenen Einschränkungen abzusprechen, für sich relevante Alltagsprobleme zu identifizieren, erachte ich als falsch. Er benannte eindeutig, was für ihn wichtig ist. Aufgabe des Therapeuten ist es, zu zeigen, welche Lösungsmöglichkeiten bestehen. In einer klienten-zentrierten Arbeitsweise liegt die Entscheidung hierüber beim Klienten (Kind und Eltern). Richtig ist, dass das COSA keineswegs eine detaillierte funktionelle Befunderhebung ersetzt. Beides zusammen garantiert jedoch eine klientenzentrierte und Erfolg versprechende Arbeitsweise.

Birgit Putthoff, Ergotherapeutin BSc Occ. Th. (Diepholz)

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Anmerkung:
Ein typisches Phänomen bei unerkannter falscher Händigkeit besteht in dem Dilemma bei einem in diesem wichtigen Punkt falsch erhobenen funktionellen Befund und gleichzeitig der Situation, dass der Patient eine solche, seit seiner Geburt bestehende Behinderung nicht als unnormal empfindet. Keiner der Beteiligten kann aus einer so gestalteten Situation einen Ausweg finden. Dies ist leider oft die Grundlage für eine möglicherweise langjährige falsche und erfolglose Behandlung und sie bleibt auch in dem beschriebenen Fall weiterhin bestehen.

Nur eine erneute Befunderhebung unter anderen Vorzeichen kann bei Einsatz von speziellen Hilfsmitteln dem Patienten Türen öffnen und ihm zeigen, wozu er wirklich in der Lage ist! Vielleicht kann man es mit einem Kind auf einer einsamen Insel vergleichen, welches seit Geburt nicht laufen kann und keinen Rollstuhl bekommt, da dort niemand einen Rollstuhl kennt und alle die Situation als normal empfinden.

Selbstverständlich spreche ich dem Patienten nicht aufgrund seiner angeborenen Einschränkungen ab, seine Alltagsprobleme zu definieren, das wäre auch völlig absurd. Ich sehe ja durch meine Erfahrung mit diesen Kindern gerade viele neue Möglichkeiten im Leben dieses Jungen, von denen er und seine Umgebung noch nichts ahnt! Und wenn man dann darauf wartet, dass einer selber darauf kommt, kann man lange warten...

 

Arvid Spiekermann, 20.2.2008