Befund korrekt?
Die Kollegin Birgit
Putthoff schrieb einen sehr interessanten Artikel zur praktischen Umsetzung des
Childrens Occupational Self Assessments (COSA) und setzte diesen in Bezug zur
Denkweise des Clinical Reasoning. Ihre Beschreibung der Alltagsrelevanz und der
Implementierung des COSA in die Therapiepraxis ist meines Erachtens sehr gut
gelungen, solche Beiträge gibt es noch viel zu wenig! Bei dem anschließenden
Fallbeispiel bekam ich jedoch Zweifel, ob die ergotherapeutische Befunderhebung
richtig durchgeführt wurde. Alle beschriebenen Symptome und Auffälligkeiten des
Jungen deuten darauf hin, dass es sich um einen Rechtshänder mit einer
Hemiparese rechts handelt, was aber in der Beschreibung nicht erkannt wird.
Natürlich kann man aus der Ferne und ohne weitere Kenntnisse des Einzelfalls
keine präzisen Aussagen machen, aber wenn das zutreffen sollte, wird der Junge
falsch behandelt, und dies sogar wissenschaftlich exzellent begründet. Eine
Förderung der linken Hand wird diesem Kind in einem kosmetischen
Trainingseffekt nur für kurze Zeit helfen; hier sind weitere Maßnahmen
erforderlich, die sich an einer neuen Betrachtungsweise des Jungen orientieren
und wirkliche Lösungen für die Probleme anbieten. Leider können Kinder, die
bereits mit einer solchen Behinderung geboren werden, ihre Probleme nicht
richtig einschätzen, da sie ja keine andere körperliche Situation kennen.
Dieser Teil der Befunderhebung muss also von der behandelnden Ergotherapeutin
oder dem Therapeuten selbstständig erforscht und in ein solches Self Assessment
unbedingt mit eingebracht werden.
Arvid Spiekermann,
Ergotherapeut (Raisdorf)
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Lieber Kollege,
danke für Ihr
Interesse und Ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. Mit Ihrer
Vermutung liegen Sie richtig: In Zusammenarbeit mit einem sozial-pädiatrischen
Zentrum wurde die These aufgestellt, dass Marcs Seitendominanz rechts ist. Die
Fähigkeiten der rechten Extremität reichten jedoch zur Umsetzung vielfältiger
Alltagsanforderungen nicht aus; die Greiffunktion sowie die Pround Supination
des hypertonen Arms waren selbst nach langjähriger Physiotherapie deutlich
eingeschränkt. Daher konnten weder grafomotorische Anforderungen noch das
Taschepacken mit der rechten, wenngleich dominanten Hand ein realistisches
ergotherapeutisches Ziel sein. Ziel war vielmehr, Marc zeitnah in seinen
aktuellen Problemen zu unterstützen. Um diese ausfindig zu machen, halte ich
das Assessment wie auch den therapeutischen Ansatz für angemessen. Ziel des
COSA ist es, die Sichtweisen des Kindes und der Eltern in die Befunderhebung
einzubeziehen und somit für sie bedeutungsvolle Ziele auf der Betätigungsebene
zu finden. Im Artikel wird ein Auszug aus diesen Zielen dargestellt. Marc
aufgrund seiner angeborenen Einschränkungen abzusprechen, für sich relevante
Alltagsprobleme zu identifizieren, erachte ich als falsch. Er benannte
eindeutig, was für ihn wichtig ist. Aufgabe des Therapeuten ist es, zu zeigen,
welche Lösungsmöglichkeiten bestehen. In einer klienten-zentrierten
Arbeitsweise liegt die Entscheidung hierüber beim Klienten (Kind und Eltern).
Richtig ist, dass das COSA keineswegs eine detaillierte funktionelle
Befunderhebung ersetzt. Beides zusammen garantiert jedoch eine
klientenzentrierte und Erfolg versprechende Arbeitsweise.
Birgit Putthoff, Ergotherapeutin BSc Occ. Th. (Diepholz)
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Anmerkung:
Ein typisches Phänomen bei unerkannter falscher Händigkeit besteht in dem
Dilemma bei einem in diesem wichtigen Punkt falsch erhobenen funktionellen
Befund und gleichzeitig der Situation, dass der Patient eine solche, seit
seiner Geburt bestehende Behinderung nicht als unnormal empfindet. Keiner der
Beteiligten kann aus einer so gestalteten Situation einen Ausweg finden. Dies
ist leider oft die Grundlage für eine möglicherweise langjährige falsche und
erfolglose Behandlung und sie bleibt auch in dem beschriebenen Fall weiterhin bestehen.
Nur eine erneute Befunderhebung unter anderen
Vorzeichen kann bei Einsatz von speziellen Hilfsmitteln dem Patienten Türen
öffnen und ihm zeigen, wozu er wirklich in der Lage ist! Vielleicht kann man es
mit einem Kind auf einer einsamen Insel vergleichen, welches seit Geburt nicht
laufen kann und keinen Rollstuhl bekommt, da dort niemand einen Rollstuhl kennt
und alle die Situation als normal empfinden.
Selbstverständlich spreche ich dem Patienten
nicht aufgrund seiner angeborenen Einschränkungen ab, seine Alltagsprobleme zu
definieren, das wäre auch völlig absurd. Ich sehe ja durch meine Erfahrung mit
diesen Kindern gerade viele neue Möglichkeiten im Leben dieses Jungen, von
denen er und seine Umgebung noch nichts ahnt! Und wenn man dann darauf wartet,
dass einer selber darauf kommt, kann man lange warten...
Arvid Spiekermann, 20.2.2008